Dieser Text wurde mit dem Deutschen Reporterpreis 2010 ausgezeichnet.
Der
erste Schuss fällt nach fünf Minuten
Sieben Jahre nach
Kriegsausbruch: Eine Rückkehr in die irakische Stadt Kirkuk
Von Carolin Emcke,
Zeit Magazin, 07.01.2010
Das Erste, was im
Krieg stirbt, ist die Gewissheit. Kein Tag, keine Stunde lässt sich
berechnen, alle Erfahrung aus anderen Kriegen erweist sich als
fragwürdig, was sicher geglaubt war, zerschellt und lässt sich nur
noch unsicher und zweifelnd zusammensetzen.
Der Wagen, der uns
am Checkpoint der Grenze zwischen der kurdischen Provinz des
Nordiraks und dem nicht mehr kurdisch dominierten Irak abholt, ist
nicht einfach ein Wagen, wie wir gedacht hatten, sondern ein
Pick-up-Truck. Und die Begleiter, die uns nach Kirkuk bringen sollen,
sind nicht uniformierte Beamte, sondern schwer bewaffnete Mitglieder
einer Anti-Terror-Einheit der Polizei unter Leitung von Major Sakran
Sroot. Auf der Ladezone sitzen sechs Männer mit schusshemmenden
Westen, einer thront hinter einem aufgestützten Maschinengewehr, die
anderen tragen Kalaschnikows über der Schulter und Pistolen am
Gürtel.
Es macht kaum Sinn,
abzuwägen, ob dieser Schutz wirklich nötig ist, ob er die Angst
verringert oder steigert, wir können es nicht beurteilen, nur
vertrauen, zudem ist es eine zuvorkommende Geste des Sicherheitschefs
von Kirkuk, der uns den Wagen geschickt hat, also sitzen wir innen
auf der Rückbank, unbeweglich in unseren massiven Westen, die wir
angelegt haben, »Der, den ich liebe, / hat mir gesagt, / dass er
mich braucht«, fällt mir auf einmal ein, Brecht, »darum achte ich
auf meinen Weg / und fürchte von jedem Regentropfen, / dass er mich
erschlagen könnte«, ab und an höre ich mich selbst auf meinen
verschalten Bauch trommeln, um den beruhigenden Klang der harten
Keramikplatten im Kern der Weste zu vernehmen, die Füße sind
eingeklemmt, weil die Helme, die wir nun irgendwie doch nicht im
Wageninneren aufziehen wollen, den Platz hinter dem Vordersitz
einnehmen, nur die Knie sind einsetzbar, um die Balance zu halten bei
dem, was jetzt folgt: Der Wagen rast über die Landstraße, Nashwan,
der arabische Fahrer, der aus Bagdad fliehen musste, weil er für die
Amerikaner gearbeitet hat, drängt zivile Fahrzeuge ab, er schlängelt
sich an jedem Auto vorbei, das ihm in die Quere kommt, rechts vorbei,
links vorbei, eine kleine Handbewegung von Major Sroot reicht, um die
Richtung des nächsten irrwitzigen Manövers anzugeben, sie jagen
dahin oder davon, das lässt sich gar nicht sagen, nur das Tempo
nicht drosseln, selbst inmitten des Stadtverkehrs nicht, wie ein
Eisbrecher dringt der Wagen ein in jede Ansammlung von Autos,
Eselskarren, Fuhrwerken, Fußgängern, die Sirene wird eingesetzt,
der Lautsprecher, immer wieder greift Sroot zu dem Mikrofon und
erteilt Befehle, wer nicht beiseitespringt, gefährdet sich selbst.
Ali Vahal, unser
dreisprachiger kurdischer Übersetzer, der in Amerika aufgewachsen
ist, hält sich schwankend in der Mitte zwischen dem Fotografen
Sebastian Bolesch und mir und flüstert: »Das nennt man martial law
...«, und es ist ihm anzusehen, dass er dies für keinen guten
Import aus den Vereinigten Staaten hält. Sebastian sagt gar nichts
mehr, auch wenn dies eigentlich ein Moment wäre für einen seiner
trockenen Klassiker (»Entspannt ist anders«).
Kaum im
Polizeihauptquartier von Kirkuk, das wie eine Festung mit
Betonblöcken vor dem Eingang gesichert ist, geht es weiter, eine
Polizeistation soll eröffnet werden, Amerikaner, sunnitische
Scheichs von den Awakening Councils, die die amerikanischen Truppen
unterstützen, Kurden, alle sollen zusammenkommen zur Feier des
Tages, unsere Einheit soll den Konvoi des Sicherheitschefs begleiten,
und so reihen wir uns ein in eine Kolonne aus 15 Landcruisern auf dem
Weg zur Polizeistation.
Der erste Schuss
fällt nach fünf Minuten. Die Kugel zischt direkt an Sebastians
Seitenfenster vorbei. Alle im Wagen erstarren für einen Augenblick.
Sroot greift zum Funkgerät und fragt bei seinen Männern hinten
nach, woher der Schuss kam, als plötzlich der uns zugewandte Soldat
am Maschinengewehr auf dem Wagen vor uns mit seiner behandschuhten
Hand winkt und lächelt, über den knatternden Funk kommt die Ansage,
er habe nur mal die Waffe testen wollen. Ah ja.
Am Fenster ziehen
sandige Landschaften vorbei, ab und an mal ein verwahrloster Esel,
braun oder grau, ausgebrannte Trümmer von Autos von
Selbstmordattentätern in denselben Farben, eine unscheinbare Ödnis,
industrialisiert, aber brach, leere Gegenden, der Blick sucht haltlos
nach einem Ort, nach Farbe, nach Leben, alles rauscht schemenhaft
vorbei, bis auf einmal die linke Fahrspur abgeriegelt ist, ein Stau
hat sich dahinter gebildet, es gibt Sperren, ein hektisches Treiben,
das um einen ruhigen Mittelpunkt herumkreist, dem sich keiner nähert,
ein rostrotes Fass liegt dort auf dem Asphalt, eine Bombe. Warum
wollten sie gerade diese Stelle treffen? »Es gibt keine Logik«,
sagt Sroot, »manchmal agieren die wie Tiere, die blind töten.«
Tiere töten eigentlich gar nicht blind, denke ich im Stillen, aber
was verstehe ich schon vom Töten. Der Wagen rast weiter, nur nicht
stoppen, nur nicht eine Sekunde zum Stehen kommen neben einem
Gegenstand, neben einem Fahrzeug, jedes Innehalten, so beginne nun
auch ich zu denken, könnte den Tod bedeuten.
Ist das schon das
Ende der kritischen Distanz? Fühlt es sich so an, das »embedded«,
das ich nie erleben wollte? Geht es so schnell, dass einem
Aggressivität nicht mehr aggressiv, sondern notwendig erscheint, nur
weil wir mit denen, die da aggressiv sind, im Auto sitzen und weil
ihre Aggressivität potenziell uns beschützt?
Immer wieder hat uns
diese Region angezogen. Sebastian Bolesch und ich waren wochenlang
während des Krieges dort, im Frühjahr 2003, als die kurdischen
Peschmerga gemeinsam mit den amerikanischen Special Forces an der
zweiten Front kämpften. Wir haben die Euphorie erlebt, als die
ersten Städte fielen, erst Bagdad, dann Kirkuk, dann Mossul, als die
Menschen nicht nur die kurdische, sondern auch die irakische Fahne
schwenkten, wir haben die Hoffnung der Flüchtlinge erlebt, die im
Zuge der »Arabisierungs«-Kampagne von Saddam Hussein aus der Region
um Kirkuk vertrieben worden waren und die träumten von einer
Rückkehr in ihre Stadt.
Wir waren mit
Tausenden Kurden zurück nach Kirkuk gezogen, nachdem die irakischen
Truppen kapituliert hatten, wir hatten die ersten Plünderungen durch
marodierende Banden miterlebt und die Amerikaner dabei beobachtet,
wie sie nicht eingriffen, wir hatten erlebt, wie die kurdischen
Peschmerga auf Anweisung der Amerikaner die Stadt wieder verließen,
obgleich sie sie vermutlich hätten besser beschützen können als
alle, die danach kamen, wir hatten die barfuß davontrottenden
Soldaten der irakischen Armee gesehen, die Verlierer, und wir hatten
gedacht, der Krieg sei vorbei.
Jetzt ist es sieben
Jahre später, und der kurdische Sicherheitschef der Stadt Kirkuk,
Brigadegeneral Muhammed Sarhad, den wir interviewen wollen, hatte
gesagt, er würde gerne mit uns sprechen, aber wir könnten nicht
einfach allein nach Kirkuk fahren. Das sei zu gefährlich. Kirkuk ist
nicht kurdisch geworden, es ist multiethnisch geblieben, viele der
von Saddam vertriebenen Kurden leben nach wie vor in runtergekommenen
Lagern und warten, dass der Status der umstrittenen Stadt sich klärt
und sie zurückdürfen. Kirkuk gehört nicht zur Provinz Kurdistan,
sondern untersteht der Zentralregierung in Bagdad. Nicht der Staat,
aber die Lebenswelten im Post-Saddam-Irak sind gespalten: In den
kurdischen Provinzen gibt es einen blühenden Aufschwung,
internationale Firmen investieren in dem prosperierenden Gebiet,
entgegen allen Mythen gibt es vor allem Kooperationen zwischen den
Kurden und der Türkei, im Jahr 2009 wurden bereits 250.000 Barrel Öl
aus den kurdischen Ölfeldern gefördert. Aber südlich der
kurdischen Provinzen kann von Entspannung oder Wiederaufbau nicht die
Rede sein.
Auf dem Rückweg von
der Eröffnungsfeier bemerkt Sroot einen dunklen BMW im Rückspiegel,
er weist den Fahrer über Lautsprecher an, sich zurückfallen zu
lassen, nichts geschieht, mit unvermindertem Tempo fährt der BMW
auf, Sroot wiederholt die Anweisung, jetzt noch mal auf Arabisch,
wieder nichts, nun versuchen die Männer auf der Ladefläche, dem
Wagen Signale zu geben, er solle aus der Formation des Konvois
verschwinden, es wird still, alle beobachten, wie der BMW reagiert,
nichts, allmählich male ich mir aus, wie es mir gefiele, wenn der
Wagen neben meinem Fenster auftauchte, Sroot staucht die Männer auf
der Ladefläche zusammen, der Wagen solle verschwinden, und auf
einmal zückt Sroot seine Glock und öffnet bei voller Fahrt die
Beifahrertür, er lehnt sich gegen die Fahrtrichtung mit dem Rücken
in die geöffnete Tür, streckt sich heraus und zielt auf den BMW.
Ein Albtraum. Was,
wenn der Fahrer des Wagens hinter uns jetzt erschossen wird? Einfach
so. Weil er nicht genug Abstand hält. Weil wir es nicht verhindert
haben. Ich vergeude Zeit mit Denken, »gedankenreiche Tatenarmut«,
Hölderlin, während Sebastian immerhin die Kamera hochreißt und
Sroot aus der Wagentür hängt, die Glock im Fahrtwind. Wir starren
auf den BMW, der vor Schreck kurz schlingert und dann zurückfällt,
Sroot zieht seinen Oberkörper wieder in den Wagen, stumm und ruhig,
und steckt die Waffe zurück.
Es ist vorbei.
Es ist niemand
getötet worden.
Vielleicht hatte
Sroot das auch nie vor, er wirkt so besonnen. Aber gewiss hätte ich
es auch nicht verhindern können. Vielleicht, wenn der Wagen wirklich
auf meine Fensterhöhe gefahren wäre, hätte ich es nicht einmal
verhindern wollen.
Wer sich auf solchen
Reisen lediglich als Beobachter versteht, verdrängt die Möglichkeit,
die sich in diesen Gegenden bietet: mitschuldig zu werden am Tod
eines Menschen.
Im Lateinischen gibt
es zwei Wörter für einen Zeugen. Testis bezeichnet den Zeugen vor
Gericht, einen unbeteiligten Dritten, der aus der Entfernung ein
Geschehen beobachtet hat und davon zu berichten weiß. Aus diesem
Begriff leitet sich die moderne Vorstellung von einem Journalisten
ab: Unsere professionellen und ethischen Erwartungen an uns selbst
speisen sich aus diesem Rollenverständnis. Eine distanzierte
Beobachterperspektive brauche es, so wird gelehrt, um eine möglichst
objektive Beschreibung der Wirklichkeit abgeben zu können,
unbeteiligt und vom Rande des Geschehens aus, das seien die
Bedingungen guter Berichterstattung. Wer beteiligt ist und
distanzlos, gerät in den Verdacht bloßer Parteinahme und
Propaganda.
Aus diesem Grund
entfernen wir das Subjekt aus dem Text, machen uns selbst unsichtbar,
als gäbe es keinen Beobachter, nur die Wirklichkeit, wie sie im Text
aufscheint, aus diesem Grund entfernen wir die Bedingungen des
eigenen Reisens, die Übersetzer, die uns begleiten und uns ihre Welt
sprachlich erschließen und denen wir vertrauen, dass sie die
Sanftheit oder die Rage so übersetzen, wie wir sie ausdrücken, die
Fahrer, die uns tagein, tagaus kutschieren, die wach bleiben, auch
nachts, wenn wir schon erschöpft zusammensacken, wir entfernen
unseren Ekel vor den verdreckten, stinkenden Stehklos, die eigenen
Schwächen, wir entfernen die Wut über die Willkür an Checkpoints,
wir entfernen die Freundschaften, die entstehen, auf allen Seiten,
die Liter gezuckerten Tee, die es braucht, bis das Vertrauen
hergestellt ist und die eigentliche Frage gestellt werden kann, wir
entfernen, wie krank wir sind zwischendurch oder verletzt, und vor
allem entfernen wir die Scham, die einsetzt bei der Rückkehr, die
Scham, jemandem nicht geholfen zu haben, wo wir es vielleicht gekonnt
hätten, jemanden zurückgelassen zu haben, der niemanden hat, die
Scham schließlich, abgereist zu sein, um zurückzukehren in das
Leben hier, als sei nichts gewesen.
All das taucht nicht
auf, denn als Zeuge im Sinne des testis sollen wir ein unbeteiligter
und distanzierter Beobachter sein.
Aber in einem Krieg
wie dem im Irak, den wir in der Stadt Kirkuk erlebt haben, einem
Krieg, der offiziell für beendet erklärt wurde, einem Krieg, der
sich überlebt hat, aber auflebt und geschürt wird, in einem Krieg,
der keine Front mehr kennt, sondern nur noch Explosionen, keine
Armeen, in einem solchen Krieg gibt es keinen Rand des Geschehens
mehr. Das ist anders als in den Gefechten des Irakkriegs 2003,
zwischen den amerikanischen Soldaten und den kurdischen Peschmerga
auf der eine Seite und der irakischen Armee auf der anderen, mit
einem Frontverlauf, mit Beobachtungsposten, mit umkämpften und nicht
umkämpften Gegenden. Im heutigen Zustand des Iraks, der von Terror
heimgesucht wird, gibt es keinen Ort mehr, der nicht bedroht wäre,
keinen Zeitpunkt, an dem nicht eine Bombe explodieren und alles im
Umkreis von 200 Metern zerfetzen könnte, keine Gegenden, die ein
Außerhalb der Gewalt kennzeichneten, es gibt niemanden, der
unbeteiligt wäre in so einem Krieg, weil diese Täter sich
willkürlich ihre Opfer suchen, weil diese Art des Terrors keine
Unterschiede kennt, keine ethnischen und keine religiösen, weil sie
potenziell alles und jeden treffen soll: Männer oder Frauen,
Schiiten oder Turkmenen, Kurden oder Sunniten, Assyrer oder Jesiden –
oder eben uns.
Wie distanziert kann
man da sein? Wenn eine Gegend niemanden unbeteiligt lässt, die
eigene Intuition und Gewissheit dauernd untergraben wird, wie
wahrhaftig ist dann eine Beschreibung, die nüchtern daherkommt und
so tut, als gäbe es diese Dissonanzen nicht?
Wenn das eine der
Wirkungen von Kriegen ist, dass sie das Vertrauen in die eigene
Urteilskraft sabotieren, wie bildet man dann Krieg angemessen ab?
Vielleicht indem die
Verunsicherung und Verstörung, die Wut und die Verzagtheit mit
beschrieben werden. Vielleicht ist eine transparente, reflektierte
Subjektivität dann doch eine objektivere Darstellung der
irritierenden Wirklichkeit des Krieges.
Unsere Patrouille
ist ein ethnisch bunt zusammengewürfelter Haufen: Kurden, Turkmenen,
Araber, in der Mittagspause spazieren sie mit uns über die Ruinen
der abgeriegelten Zitadelle von Kirkuk, verfallene christliche
Kirchen bilden hier mit brüchigen Moscheen eine grandiose Kulisse,
im Hintergrund steigen meterhoch die Flammen von dem Gas auf, das bei
der Ölgewinnung entsteht und das sie hier abfackeln, eine
unwirkliche Szenerie, ein Spaziergang inmitten der angeblich so
verfeindeten irakischen Ethnien, sie bilden eine Einheit, und sie
sind keine Ausnahme. Von den 3700 Polizisten des Distrikts von Kirkuk
sind 47 Prozent arabische, 26 Prozent kurdische, 26 Prozent
turkmenische und 1Prozent christliche Iraker. Und sie machen Witze
über die Versuche jeder Minderheit, diese Stadt für sich zu
beanspruchen, über die Widersprüchlichkeit der Amerikaner, erst
einen Krieg zu führen, weil Saddam Hussein solche Verbrechen an den
Kurden begangen hat, um sie dann nicht nach Kirkuk zurückzulassen,
nur weil die Ölfelder um Kirkuk liegen, über die internationale
Wahrnehmung des Iraks als eines zersplitterten Landes, sie reden, als
gäbe es religiöse oder ethnische Unterschiede nur in den
Vorstellungen der Regierungen in Teheran, Damaskus, Ankara und
Washington, aber doch nicht bei ihnen, den Irakern in Kirkuk, sie
reden, als wüssten sie, dass Gleichwertigkeit keine Gleichartigkeit
voraussetzt.
Vielleicht haben sie
das immer schon gewusst. Vielleicht haben sie das erst durch diesen
Terror gelernt, der sie gleich wertlos machen will.
»Kirkuk ist ein
kleiner Irak«, sagt Captain Saleh Nooa von der
Bombenentschärfungs-Einheit (Explosive Ordnance Disposal, EOD
genannt) in Kirkuk, er sitzt hinter seinem Schreibtisch in einem
winzigen Büro, in das auch ein Feldbett mit einer dünnen Wolldecke
gequetscht ist, und schaut abwechselnd auf den Fernseher, in dem
passenderweise Stirb langsam, Teil 4 läuft, und auf die Plastiktüten
direkt vor ihm, in denen Schaltteile und Kabel von den jüngsten
Bombenfunden lagern. 72 Sprengstoffexperten arbeiten für Nooa, in
drei Schichten, rund um die Uhr. »Dies ist ein Krieg der
Explosionen, da sind keine Armeen mehr«, sagt Nooa. »Kirkuk ist das
Ziel all derer, die den Irak destabilisieren wollen, weil Kirkuk alle
Minderheiten vereint.« Wenn es stimmt, was Nooa sagt, dann ist die
ethnische Vielfalt nicht der Grund für die Gewalt im Irak, sondern
die Gewalt hat die ethnische Vielfalt zum Ziel. Das wäre das
Gegenteil von dem, was gern behauptet wird: Der Irak zerfalle wegen
seiner ethnischen Vielfalt. Aber das ist lediglich das, was
Terroristen uns glauben machen wollen. »Es sind verschiedene
Netzwerke aus Al-Qaida-Mitgliedern, ehemaligen
Baath-Partei-Extremisten und eingeschleusten Kämpfern aus Syrien und
dem Jemen, sie wollen einen demokratischen Irak verhindern.«
Internationale
Beobachter diskutieren den Abzug der Amerikaner, sie erörtern den
Wiederaufbau des Iraks, das sogenannte Nation-Building, die
Stabilität des demokratischen Staats, sie konzentrieren sich auf
Afghanistan – als sei der Krieg im Irak vorbei. Aber im Irak
sterben Menschen nach wie vor einen gewaltsamen Tod. Im Irak wütet
der Terror, jeden Tag. Nicht die ethnische Vielfalt zerstört dieses
Land, sondern der Terror, der gegen die Vielfalt anmordet, ob die
Täter aus dem Irak stammen oder aus benachbarten Ländern, ob sie in
diesem Krieg etwas verloren haben oder etwas zu gewinnen glauben, ob
sie sich gegen die amerikanische Präsenz im Irak richten oder gegen
die eigene multiethnische Regierung. Es ist noch nicht vorbei.
Vielleicht sterben nicht mehr so viele amerikanische Soldaten, aber
es sterben irakische Zivilisten, Kurden und Sunniten, Turkmenen und
Schiiten.
Eine halbe Stunde
nachdem wir die EOD-Einheit verlassen haben, ruft Nooa an. »Es gibt
einen Alarm an einer befahrenen Kreuzung – wollen Sie mit?«
Der Gegenstand
könnte ein Benzinkanister sein oder ein fest geschnürtes Paket, es
könnte eigentlich alles sein, aus dieser Entfernung, auch mit dem
Fernglas, ist nichts zu erkennen. Wie verheerend die Wirkung von
Bomben dieser Größe sein kann, lässt sich an dem Radius von 400
Metern erkennen, in dem Nooa alle umliegenden Zufahrten evakuieren
lässt. Nur ein einziger Wagen bleibt im Innern dieser Zone – in
dem sitzen wir. Es ist ein gepanzertes Spezialfahrzeug für solche
Einsätze, es knirscht, wenn der schwere Wagen sich langsam bewegt.
Nooa will ihn in Stellung zu dem Objekt bringen. Er holt sein Gewehr
hervor, und erst jetzt wird klar, was er plant: Nooa will mit einem
gezielten Fernschuss die Sprengladung auslösen und die Bombe
hochjagen. Brillant. »Entschärfung« hatte ich mir anders
vorgestellt.
Nooa öffnet die
Beifahrertür und legt das Gewehr in den Winkel. Während er zielt,
wandert mein Blick über die Armaturen des Wagens, »hearing
protection required« steht überall auf roten Warnschildern, na
großartig, meine Augen sind ohnehin schon schlecht, aber meine
Ohren... Sebastian hat sowieso keine Hände frei, um sich seine Ohren
zuzuhalten, aber ich finde, der braucht Ohren auch nicht so nötig
wie ich, Nooa feuert ... nichts, er legt erneut an, wartet, in die
Stille hinein lässt sich jede Druckwelle imaginieren, ich frage
mich, wie sie das machen, dieses kalkulierte Unwissen, wie sie das
aushalten, diesen Moment, direkt bevor es knallt, wenn es denn
knallt, nicht einmal das lässt sich ja vorhersagen, diese Erwartung
einer Explosion, er schießt ... nichts, die Patronenhülsen sammeln
sich neben der Tür, er zielt, den Kopf über das Gewehr gebeugt,
ruhig, und drückt ab ... wieder nichts, ein ganzes Magazin
verschießt Nooa, ohne dass auch nur irgendein Geräusch
hierherdringen würde, soll ich mal versuchen?, ich schlucke den
Gedanken runter, Sroot schaut durchs Fernglas und murmelt etwas zu
Nooa, Vahal übersetzt leise, er hat getroffen, Nooa dreht sich um,
während er nachlädt. »Ich habe auch schon 18 Mal auf ein Objekt
geschossen, immer getroffen, aber nichts ist passiert. Und dann beim
19. Schuss ging die Bombe hoch.«
Zwei ganze Magazine
feuert Nooa auf den Gegenstand, dann gibt er auf. Er wendet den
Wagen, öffnet die Heckklappe und setzt sich vor das Schaltpult von
Remotec Andros II, einem Roboter, der langsam auf zwei Schienen aus
dem Wagen rollt und dann über den Asphalt fährt. Minutenlang
verfolgen wir auf dem winzigen Schwarz-Weiß-Bildschirm an der
Schaltkonsole, wie die Kamera die Perspektive des Roboters einfängt.
»Hat der auch einen Namen?«, lasse ich Vahal fragen, »Bruder
Mohammed«, irgendwie beruhigend, doch kaum hat das Ding einen Namen,
frage ich mich, was eigentlich mit »Bruder Mohammed« passiert, wenn
die Bombe hochgeht, »Dann brauchen wir einen neuen« ... Der Roboter
rollt dem bedrohlichen Paket entgegen, und Nooa betrachtet die
Bilder, die er ihm sendet, dann steuert er den Greifarm, und mit
unendlicher Geduld beginnt er, das Paket zu drehen, zu wenden,
anzuheben, er sucht einen Zipfel an der Hülle, die erst jetzt
richtig zu erkennen ist, hebt es an und schüttelt, er setzt es ab,
Minute um Minute vergeht, in denen Nooa Zentimeter um Zentimeter
abtastet, nach und nach pellt er das Paket aus seiner Hülle, ein
Karton kommt zum Vorschein, es scheint unwahrscheinlich, dass eine
Bombe darinsteckt, aber Wahrscheinlichkeit reicht als Kategorie nicht
aus.
Es dauert eine
Stunde, schätzungsweise, bis das Paket geöffnet und als harmlos
erkannt ist, eine Stunde, die eine Lektion in Demut erteilt und eine
Ahnung vermittelt, dass nicht nur die Anschläge, bei denen Opfer zu
beklagen sind, zählen, sondern auch alle vereitelten Anschläge,
alle Absperrungen, die das normale Leben lähmen, jeder Alarm, der
Angst auslöst, der Erinnerungen an zerstümmelte Körper weckt, der
normale Objekte auf einmal gefährlich erscheinen lässt, der alles
Vertrauen in die gewohnte Umgebung untergräbt: Das ist es, was
Terror bedeutet.
Zeugenschaft,
übrigens, gibt es auch noch in einem anderen Sinn, das lateinische
superstes bezeichnet ebenfalls einen Zeugen, einen, der ein Ereignis
durchlebt hat, der eine Erfahrung gemacht hat, die er beschreibt, die
ihn betroffen und die er überstanden hat (superstite).
Diesem Zeugen wird
keine unabhängige Autorität zugeschrieben – aber er kann ein
Ereignis in aller Genauigkeit beschreiben. Das ist nicht unbeteiligt,
aber es gibt auch nicht mehr vor, distanziert und sicher aus einer
unberührten Wirklichkeit heraus zu schreiben, nicht zuletzt, weil es
diese unberührte Wirklichkeit in solchen Gegenden nicht gibt.
Deswegen fahren wir
Journalisten meistens auch gar nicht hin, weil es uns zu gefährlich
ist oder zu mühsam, und so erfahren wir Leser (und Journalisten sind
ja zunächst auch nur die Leser der Texte anderer Journalisten)
nichts davon. Diese Landschaften werden zu blinden Flecken auf
unseren politischen Landkarten, wir wissen, es herrscht Gewalt, das
reicht uns schon, aber wie sie sich auswirkt auf die Menschen, die
dort leben, das wissen wir als Leser oder Zuschauer nicht, wir tun
so, als reichte es, zu wissen, wie viele Tote es beim letzten
Bombenschlag in Bagdad gab, aber was das bedeutet, wie die Menschen
arbeiten, die versuchen, die Bomben zu entschärfen, das schauen wir
uns allerhöchstens im Kino an und denken, das sei Fiktion, schon
allein, damit es erträglicher ist.
Als der Junge den
Raum betritt, erstarren Vahal und ich. Wir hatten um einen Besuch im
Gefängnis gebeten, weil uns die langen Schlangen von Frauen am
Polizeihauptquartier aufgefallen waren, die Häftlinge besuchen
wollten. Wir hatten gefragt, ob es möglich sei, ohne Bewacher mit
einem Terrorverdächtigen zu sprechen, der hier in Untersuchungshaft
sitzt. Der Gefängnisdirektor ist eher besorgt, ob mich ein Terrorist
angreifen könnte, als dass ein Häftling sich über Misshandlungen
beklagen könnte. Wir einigen uns darauf, dass Wachen vor der Tür
stehen bleiben und ich im Notfall nach Hilfe schreien könnte. Fotos,
sagt der Direktor, dürften nicht gemacht werden, das widerspräche
den Menschenrechten.
Nacht für Nacht
sehe ich diese Szene seither wieder: wie Samir Afif Ammar in den Raum
geführt wird und wie er uns nicht einmal anzuschauen wagt, wie er
kaum gehen kann, seine Füße nur kraftlos vor sich herschiebt,
schlurfend, er ist 19, so groß wie ich, 1,75 Meter, und wiegt
höchstens noch 55 Kilogramm, sein Kopf ist kahl geschoren, auf der
rechten Hälfte zieht sich eine riesige Narbe in der Form eines
Halbmonds durch die schwarzen Stoppeln, er trägt eine braune Hose
und ein braunes T-Shirt, als der Beamte ihm den Stuhl anweist,
gehorcht Samir, obgleich zu erkennen ist, dass er sich kaum setzen
kann. Als wir allein sind, schlägt Vahal Samir vor, sich doch auf
das Feldbett im Raum zu setzen, mit der Wolldecke obendrauf, das ist
ein weicherer Untergrund für jemanden, der vermutlich gequält
wurde, indem er sich nackt auf eine Flasche setzen musste, bis sie
bricht.
Und dann beginnt
Samir seine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die ich nicht
überprüfen kann und die so unwahrscheinlich klingt, dass jeder sie
für eine Lüge halten muss, der sie nur hört und diesen Jungen
nicht gesehen hat. Samir erzählt, dass er aus Syrien stammt, aus
einem kleinen Ort nahe der irakischen Grenze, er habe einen
Schulabschluss und habe auch einen Computerkurs besucht, als ihn
eines Tages, vor neun Monaten, ein gewisser »Abu Omar« in einem
Kaffeehaus angesprochen habe: Er könne ihm Arbeit vermitteln, auf
den Ölfeldern im Irak, er werde ein gutes Gehalt bekommen. Abu Omar
schmuggelt Samir über die Grenze, genau zwei Wochen verbringt Samir
im Irak. »Und dann kann ich mich nicht mehr erinnern«, sagt Samir,
»das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich mit einem
Sprengstoffgürtel um den Bauch verhaftet werde und dass Polizisten
auf mich einschlagen.«
Das soll die
Geschichte sein? Er erinnert sich einfach nicht mehr? Er sieht
unseren Unglauben. Samir fährt fort: »Ich kann einfach nichts
anderes erzählen, das ist alles, woran ich mich erinnere, und das
habe ich auch bei allen Verhören gesagt.« Wenn Samir spricht,
bewegt er nur die linke Hand, die andere liegt schlaff auf seinem
Bein. »Ich kann die rechte Seite nicht kontrollieren«, erklärt
Samir, zehn Tage habe er im Krankenhaus gelegen, er streicht mit
seiner linken Hand über die Narbe am Kopf, einmal aus dem
Krankenhaus entlassen, begannen die Verhöre, durch Männer in
ziviler Kleidung, vielleicht Araber, vielleicht Kurden, die Arabisch
sprachen, erzählt Samir, er schaut immer nur geradeaus, nur wenn
Vahal ihn anspricht, wendet er den Kopf. »Warum sollte ich das tun?
Ich lehne Selbstmordattentate ab. Wenn Menschen sich umbringen
wollen, sollen sie das tun. Aber doch nicht andere töten dabei.«
Er spricht leise,
als müsse er seine Kräfte schonen, nie anklagend, nie eindringlich,
als habe er den Glauben verloren, dass jemand wirklich zuhören
könnte oder gar glauben, was er zu sagen hat. »Sie haben mich
geschlagen«, sagt Samir, »immer wieder, mit Stöcken, Kabeln, sie
haben mich mit Elektroschocks gefoltert«, er zieht mit der linken
Hand die Hosenbeine hoch und zeigt die Narben auf seiner Haut, ich
frage, ob ich mich ihm nähern darf, er zuckt kurz, vielleicht vor
Angst, dass ich ihn verletzen könnte, vielleicht vor Schreck, dass
sich jemand für ihn interessieren könnte. Ob auch Amerikaner ihn
verhört hätten? »Ja«, sagt Samir, »aber sie haben mich nie
angerührt.« Ob die Misshandlungen andauerten? Nein, ihm würden nur
noch Bilder vorgelegt, und er solle sagen, ob er Menschen darauf
kenne. Ob es die Polizisten hier im Hauptquartier gewesen seien?
Nein, die Verhöre hätten an einem anderen Ort durch andere Männer
in Zivil stattgefunden. Es sind diese Differenzierungen, diese
Vorsicht, keine falschen Anschuldigungen zu machen, die meine Zweifel
an seiner Geschichte unterwandern.
Würde ein
überzeugter Terrorist, ein Selbstmordattentäter im Gefängnis,
einer, der in flagranti verhaftet wurde, mit einem Sprengstoffgürtel
um den Bauch, einer, der nichts mehr zu verlieren hat, weil schon
alles verloren ist, sich noch um Genauigkeit bemühen? Wie das Gerät
aussah, mit dem er die Elektroschocks bekommen hat? Samir formt mit
seiner linken Hand einen kleinen Kasten. »Es war schwarz«, sagt
Samir, »und die Folterer nannten das Gerät the American.«
Ich schaue auf
diesen blassen Jungen und frage mich, was vom Krieg geblieben ist.
Eine Wortschöpfung? »Amerikaner« als Synonym für ein
Folterinstrument?
Vielleicht ist seine
Erinnerungslücke erfunden, vielleicht wollte er Hunderte Menschen in
die Luft sprengen, vielleicht ist seine Amnesie echt und Folge eines
Schädeltraumas, das er bei seiner Verhaftung erlitten hat,
vielleicht ist er unter Drogen gesetzt worden, wie so viele, die auf
Selbstmordkommandos geschickt werden. Vielleicht. All das ist
ungewiss. Gewiss ist, dass dieser Junge kaum gehen kann, dass er seit
achteinhalb Monaten im Untersuchungsgefängnis sitzt, ohne Anwalt,
ohne Gutachten, das beurteilen könnte, ob seine Geschichte
möglicherweise stimmt. Gewiss ist, dass diejenigen, die Demokratie
und Menschenrechte gegen Terroristen verteidigen wollen, sie selbst
nicht achten. Gewiss ist, dass niemand sich um diesen Jungen scheren
wird, weil niemand weiß, dass er da sitzt, weil er nur ein einzelner
junger Syrer ist, weil das Unrecht, das ihm angetan wurde, den
meisten nichtig erscheint in so einem wüsten Krieg, weil niemand
sich für jemanden einsetzen will, der einen Sprengstoffgürtel trug,
und schließlich, weil er selbst sich nicht zu verteidigen weiß,
außer mit dem einen Satz: »Ich kann mich nicht erinnern.«
Seit zehn Jahren
reisen wir zusammen, der Fotograf Sebastian Bolesch und ich, seit
zehn Jahren reden wir miteinander über die Landschaften aus Tod und
Zerstörung, in die wir fahren, und über die Menschen, denen wir
begegnen. Seit zehn Jahren reisen wir zusammen, aber noch nie waren
wir so zerschlagen wie nach dieser Reise, noch nie bin ich jeden
Morgen aufgewacht danach, schweißnass, wie ein gehetztes Tier, und
noch nie schien das Schreiben über den Krieg so entsetzlich
unzulänglich. Noch nie schienen mir die Belange meiner Freunde so
fremd, ihre Sorgen so narzisstisch, noch nie war ich so empfindlich,
noch nie so grob im Ablehnen allerlei herzlich gemeinter Einladungen.
Ob wir fasziniert seien von Gewalt, werden wir gefragt, wenn wir
wieder hier sind, und warum wir das machten, als müssten wir uns
schämen dafür und nicht die, die so fragen.
Ich habe Samir Afif
Ammar da sitzen gelassen, in seiner Zelle mit 40 anderen Häftlingen.
Da wird er bleiben, ohne Besuch und ohne Anwalt, ich habe ihm nicht
geholfen, ich bin nicht zum Polizeipräsidenten gegangen, um mich
über die Folterungen zu beklagen, aus Angst, er würde dann erst
recht misshandelt werden. Ich habe ihn nicht nach der Telefonnummer
seiner Mutter gefragt, um ihr zumindest Bescheid zu geben, dass ihr
Sohn noch lebt, aus Feigheit, ich würde dann nicht mehr distanziert
und unbeteiligt sein. Das Schlimmste ist: Ich habe ihm nicht einmal
gesagt, was ich denke, dass ich ihm glaube und dass ich mich schäme
dafür, wie er behandelt wird, ich bin einfach nur rausgegangen aus
dem Raum mit der Wache davor, hilflos und stumm.
Zurück in Berlin,
habe ich die Geschichte von Samir verschiedenen Anwälten und
Menschenrechtlern gemeldet, sie haben sie aufgenommen mit Entsetzen,
aber hinfahren nach Kirkuk? Das können sie nicht. Das ist zu
gefährlich.
Nein, ich bin nicht
fasziniert von Gewalt. Aber sie geschieht. In unserer Welt, jeden
Tag. Und wir sind beteiligt daran.
Alle.
Zurück |